Wir können ohne einander nicht sein

Die Erde war leicht steinig, von unscheinbarer Krumenfarbe, hob sich nur dezent gegen das Blau des Himmels ab. Wieder einmal betrachtete die Erde in tiefer Liebe und Bewunderung den großen Baum auf ihr, der nun schon viele Jahre zählte. Der Baum hatte sich an seinem Platz von Jahr zu Jahr besser eingerichtet und er war von Jahr zu Jahr stolzer und größer gewachsen. Sein kräftiger Stamm zeugte von Standfestigkeit, Gesundheit und Daseinsbewusstsein. Seine ausgewogenen Äste, die sich in der Windsprache wohl auskannten und darin geübt bewegten, zeugten darüber hinaus von einer Himmelsgewandheit in Schwung und Beweglichkeit. Die wohlgeformten und kraftvollen Äste führten in eine filigrane Leichtigkeit und an jedem seiner Astenden wohnte der Hinweis, das jede einzelne Astspitzen in der Tiefe und Unendlichkeit des Raumes ihren eigenen Platz hatte.

Ach Du! Sagte die Erde: Du bist so schön! Ach, Du! Zu Dir kommen die Menschen, weil sie in Dir ein Ziel sehen. Ach, Du! Auf Dich laufen sie zu. An Dir bleiben sie stehen. Unter Deiner Krone treffen sie sich. Von Dir fühlen sie sich inspiriert. Mit Dir identifizieren sie sich sogar. Die Menschen sagen dann über sich: Ich bin wie ein Baum!

Ach Du! Sagte die Erde, Du bist einfach wunderbar! Der Baum hörte die Schönheit der Worte und die Melodie der Inhalte ließ er aufmerksam in seinem Herzen verhallen. Der Baum wollte verstehen und antworten. Denn die Erde fand in ihm wohl den Bewundernswerteren und den Hochbegabten. Es stimmt! Sagte er dann, die Menschen staunen über mich und bewundern mich. Sie nehmen mich als Wanderziel und Aussichtspunkt. Sie lassen sich in meinem Schatten nieder. Sie verknüpfen Ihre Lebensgeschichten mit mir und besuchen mich nach Jahren wieder, um sich bei mir an ihre alten Zeiten zu erinnern. Ich bin ihr Symbol für viele positive und nachahmenswerte Eigenschaften! Und sie identifizieren sich auch selbst mit mir! Mit mir verbinden sie Wehmut, Trauer, Freude, Erfolge, Glück und sogar Liebe. Sie loben meine Produkte, ernten meine Früchte. Meine Blätter bekleiden mich in jedem Frühling neu und verabschieden sich mit einem festlichen Gewand im Herbst. Die Menschen haben sogar große Feste an meiner Wandlung ausgelegt.

Aber weißt Du liebe Erde, zu all dem gehört noch viel mehr! Ich staune doch auch selbst darüber!

Nur Du kennst mich und meine andere Seite, sie ist den Menschen verschlossen und bleibt ihnen als Erleben ein Geheimnis . Denn tief und kraftvoll wurzle ich in Deinem Schoß. Fest sind wir ineinander verankert. Nur durch Dich kann ich mit dem Wind spielen. Ohne Dich wäre ich haltlos. Ohne Dich, meine liebe Erde wäre ich beziehungslos und einsam und würde verkümmern. So wie die Menschen an mich denken und sich an mich anlehnen, so genieße ich es und brauche ich es, auf Dir zu stehen und in Dir zu gründen und zu ruhen. In Dir bin ich Zuhause, an Dir halte ich mich fest.
Der Baum sah noch einmal die steinige Erde in ihrer unscheinbaren Krumenfarbe an. Seine Zweige zitterten in Freude, er sagte: Sicherlich Erde wirst Du nie Baum, Du bist Erde. Und sicherlich werde ich mich als Baum, nie als Erde fühlen. Ich fühle und erlebe mich als Baum. Denn wenn ich vergehe, werde ich in Dir als Erde erwachen, weil Du als Erde Erde bist. So bleibt uns doch in unserer Nähe miteinander die Ahnung voneinander.

Ach Erde! Sagte der Baum und seine Äste seufzsten hell. Das ist wohl die Liebe; wir bedingen einander und bleiben doch das was wir sind. Auch bin ich nicht mehr als Du, auch wenn Du mich so bewunderst. So meine ich, ist Deine Bewunderung der erste Hinweis und der erste Schritt auf das Achtungsvolle, das im zweiten Schritt auch Dir gehört. Ach Erde, wie schnell kann man Dich in der kleinen Schau der Gegenwart in Deiner Größe und Weite vergessen. Ein Narr ohne Weisheit bleibt, der Deine vielfache Art der Schönheit nicht zu erkennen vermag. Wie viele mögen in der Vergangenheit auf Dir getrampelt sein, ohne Dich zu begreifen und ohne Dich und im zweiten Schritt auch sich selbst ehren zu können. Und Du meine liebe Erde darfst die halben Ohren, die halben Augen und die halben Herzen endlich vergessen! Sie waren Dir ein schlechter Spiegel! In Deiner Fähigkeit zu staunen und zu bewundern, schließe Dich endlich liebevoll mit ein. Du bist wunderbar! Und nun laß´uns gemeinsam die neue Zukunft ahnen, indem wir aus Vergangenem lernen um weiter zu gehen.

Ich liebe Dich! Sagten die Erde und der Baum gleichzeitig.

Annette Scharfenort